Respekt

Wer jemals beim Eishockey gewesen ist, dem erscheint ein Fußballspiel bestenfalls als Abklatsch. Und wer sein Herz an den Allgäuer Traditionsverein ESV Kaufbeuren verloren hat, dem schreibt die brennende Leidenschaft des Wertachderbys flammende Rivalität mit dem Augsburger EV ins Stammbuch. Kaufbeira und Augschburg, das war schiere Emotion, atemberaubende Dramatik, knisternde Hochspannung, das war Feuer und Wasser, Klein gegen Groß. Wenn der AEV am Berliner Platz aufkreuzte und sich der ESVK im Schleifgraben einfand, rief sich der Ausnahmezustand von selbst aus. Es grassierte das Derbyfieber. Da wackelte die aus allen Nähten platzende Bude. Die Luft brannte. Es ging um mehr. Der Bauch übernahm die Aufgaben des Kopfes und die Vernunft durfte sich ein paar Tage lang freinehmen.

Obwohl sich die Wege der eishockeybegeisterten Wertachstädte schon vor geraumer Zeit getrennt haben und die brodelnden Derbynächte nur mehr in den leuchtenden Augen der altgedienten Rotgelben Geschichten aus erster Hand erzählen, stehen Kaufbeira und Augschburg -Ligenzugehörigkeit hin oder her- auch heute noch für eine gelebte Rivalität. Da beißt die Maus keinen Faden ab, weil es gar keinen Faden zum Abbeißen gibt. Schließlich dient die Lokalrivalität überall auf der Welt als Salz in der Sportsuppe – und seinen Kontrahenten, den wünscht man vielleicht zum Teufel, hergeben aber tut man ihn nicht. Zumal wenn einen die Gelassenheit der Jahre allerhand ruhiger, besonnener, beinahe schon romantisch sehen und gar in Betracht ziehen lässt, dass es das in Wirklichkeit ein Stück weit auch sein könnte.

Aber zurück zum Fußball. Genauer gesagt, zum Augsburger Fußball, über den es ein paar Dinge klarzustellen gibt. Erstens. Fußball bleibt Fußball und ist damit per se auch dort weniger mitreißend als jedes Eishockeyspiel. Zweitens. Durch meinen Kopf geistert selbst beim Gedanken an Fußball vorderhand die uralte Eishockeyrivalität und es bedarf eines Sprungs über den eigenen Schatten, der sich nach längerem Zieren dann aber bei genauerem Hinsehen doch nicht als derartig lang erweist, um als unüberwindbarer Stolperstein zu taugen. Also drittens. Nicht nur, weil die Welt ohnehin voller Aber steckt. Sondern vielmehr. Weit wichtiger. Weil sich der Augsburger Fußballsport längst seine Chance redlich verdient hat und man weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick umhin kommt, beeindruckend zu finden, was in der Fuggerstadt aufgebaut worden ist. Zumal Augsburg auf der großen Fußballbühne obendrein eine Metamorphose nach meinem Geschmack vollzieht, sich im Bundesligahaifischbecken häutet und nun selbst in die reizvolle Rolle des Underdogs schlüpft.

Machen wir uns also auf den Weg nach Haunstetten. Auch wenn das Wetter am Tag nach Allerseelen so gar nicht zum Aufenthalt im Freien einladen möchte und die Schwester ihren kleinen Bruder und ihren Vater bereits beim Eintrittskartenkauf ins Grübeln gebracht hatte. „Ich bleib daheim. Fußball ist mir ein bisschen zu langweilig. Beim ESVK bin ich aber sofort jederzeit wieder dabei“, hatte der elfjährige Sonnenschein dem Verbleib bei der Mutter und dem Besuch des Apfeltracher Leonhardiritts Vorrang eingeräumt und den Bruder mit dem Vater alleine losziehen lassen.

So weit, so gut. Man kann das verstehen. Im Grunde bestätigte sie ja nur, was ich selbst denke. Und dennoch. Der Besuch in der WWK-Arena darf trotz der Einwände ein paar überzeugende Argumente für sich reklamieren. Die da wären. Benedikt schießt nicht nur leidenschaftlich gerne Tore für die F-Jugend des FSV Dirlewang, nein, er tritt gegen den Ball, wo immer er auch nur einen vermutet. Eishockeyverrückt ist der großartige Bursche ohnehin, fußballverrückt aber eben auch. Punkt eins. Sein Vater unterschied sich als Bub keinen Deut von ihm. Er kann ihn also verstehen. Und er mag den Fußball noch heute. Trotz seiner Auswüchse. Trotz seiner Defizite dem Eishockey gegenüber. Punkt zwei. Und schließlich noch etwas. Punkt drei nämlich. Auf dem Bundesligaspielplan stand das Aufeinandertreffen des FC Augsburg mit dem fränkischen Rivalen 1. FC Nürnberg. Keine Spitzenpartie. Aber fraglos ein Klassiker voller Fußballromantik mit einer besonderen Bewandtnis dazu. Einer ganz persönlichen, die uns zurück in die Vergangenheit führt. Weit zurück. Vierundvierzig Jahre.

Rückblende. Sommer vierundsiebzig. Deutschland hat den Weltmeistertitel erobert und Augsburg liegt seinem größten Fußballsohn Helmut Haller zu Füßen. Der war schon früh über die Alpen gezogen, um in Bologna und Turin die Herzen der Tifosi im Sturm zu erobern. Dreimal hatte il Biondo den Scudetto errungen und nun war er nach Augsburg heimgekehrt, um den aus der Bayernliga kommenden Neuling aus dem Stegreif nicht nur zur süddeutschen Regionalligameisterschaft vierundsiebzig, sondern beinahe in die Bundesliga zu führen. Erst in der nervenaufreibenden Aufstiegsrunde waren die Datschiburger um ein dürres Pünktchen an Tennis Borussia Berlin gescheitert und haarscharf am ganz großen Coup vorbeigeschrammt. Genau wie Vizemeister Nürnberg, der nun zum Auftakt der neugegründeten Zweiten Bundesliga Süd im Rosenaustadion aufkreuzte. Man schrieb den dritten August vierundsiebzig. Sommer. Sonne. Spannung. Die Hütte rappelvoll, die Erwartungen hochfliegend. Verdammt hoch. Auf beiden Seiten. Hier der von Helmut Hallers Heimkehr euphorisierte FCA, dort der hochemotionale Herzschmerzclub von der Pegnitz, der seine Anhänger in den späten Sechzigern auf eine besonders harte Probe gestellt hatte, als er unter seinem Wiener Traineroriginal Max Merkel erst die Bundesligameisterschaft errungen hatte, dann aber binnen Jahresfrist aus dem Oberhaus abgestiegen war. Hier die blonde Legende mit den goldenen Beinen, dazu Willi Hoffmann, Klaus Vöhringer und Walter Modick, dort Dieter Nüssing, Hans Walitza, Rudi Hannakampf und nicht zuletzt an der Seitenlinie Hans Tilkowski, dessen Name auf ewig mit dem Wembleystadion und einem von der Unterkante der Latte auf die Torlinie springenden Ball, den im Übrigen niemand anderer als Helmut Haller als Trostpflaster mit in die Heimat nahm, verbunden bleiben wird. Und das Beste. Mittendrin eine kleine Besuchergruppe aus dem oberen Mindeltal.

Vierundvierzig Jahre ist das her, dass mein Vater mit seinen beiden Buben im strahlenden Licht der Augustsonne auf der Tribüne des Rosenaustadions saß. Vierundvierzig Jahre. Die Affäre um den Ostagenten Günter Guillaume zwang seinerzeit Bundeskanzler Willy Brandt zum Rücktritt. In den Vereingten Staaten von Amerika ließ die Watergateaffäre Präsident Richard Nixon keine Wahl. Der Osten und der Westen erstarrten im Kalten Krieg. In Wolfsburg lief derweil der erste VW Golf vom Band. Chinesische Bauern aus dem Dorf Xiyang entdeckten beim Brunnengraben zufällig die siebentausend menschengroße Tonfiguren umfassende Terrakottaarmee des Kaisers Qin Shihuangdi. Im kongolesischen Kinshasa verschlug der Rumble in the Jungle zwischen den Schwergewichtlern George Foreman und Muhammad Ali der Welt den Atem. Weit wichtiger aber. Erich Weishaupt, Jo Scholz, Bobby Riess, Mandi Hubner und Rudi Uhrle führten den ESV Kaufbeuren zur überlegenen Zweitligameisterschaft und zurück in die Bundesliga. Mit deutlichem Abstand vor dem Mannheimer ERC, dem EC Deilinghofen, dem EV Rosenheim, dem Duisburger SC. Dafür mussten Robert Merkle und Udo Kießling mit ihrem von Verletzungen und Schulden gebeutelten Augsburger EV ihren Platz im Eishockeyoberhaus räumen. Und. Die wahre Tragödie jener Zeit. Auf dem Weizenbier schwamm allenthalben die obligatorische Zitronenscheibe.

Viel ist seitdem geschehen und allerhand den Bach hinuntergegangen. Geblieben ist die Erinnerung. An den guten Vater, der schon seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr unter uns weilt. An Rainer Bonhofs Flankenlauf mitsamt seiner flachen Hereingabe auf den Bomber der Nation. Und an den Sonnensamstag im Rosenaustadion, aus dem wir zurück in die Gegenwart springen. Hinein ins Geschehen unter dem novembergrauen Spätnachmittagshimmel zwischen Göggingen und Haunstetten. Spannung liegt in der Luft des Arenaschmuckkästchens, dessen Trutzburghaftigkeit mein Stadiongefühl anspricht. Vielleicht auch weil es den Eindruck von Bodenständigkeit vermittelt und Tatkraft mit Bescheidenheit in Einklang zu bringen vermag.

Die Hausherren haben in der ersten Halbzeit Ball und Gegner beherrscht. Sie liegen knapp in Führung. Nach der Pause aber nimmt die bis dahin einseitige Partie Fahrt auf. Weil die spielerisch begrenzten Gäste aus der Noris ihr Kämpferherz in beide Hände nehmen, um sich gegen das sichtbar gepflegtere Passspiel der Schwaben und die erste Punktspielniederlage in Augsburg seit vierundvierzig Jahren aufzulehnen, während der FCA nicht mehr genug dafür tut, seine Überlegenheit zu festigen und in zählbaren Erfolg umzumünzen. Nun bieten in der ausverkauften Arena nicht mehr nur die heißblütigen Närmbercher Fußballfans der lautstarken Ulrich-Biesinger-Tribüne die Stirn. Auch auf dem Rasen machen sich die Cluberer zunehmend bemerkbar.

Ich lege meinem Sohn den Arm auf die Schulter. Wir lächeln uns an, als Augsburgs Sturmas Alfred Finnbogason den Ball mit isländischer Urkraft ans Kreuzeck köpft und sich im Handumdrehen der Nürnberger Virgil Misidjan auf den Weg zum brandgefährlichen Gegenzug macht. Während die Clubfans auf der Tortribüne erwartungsfroh aufspringen, spannen meine Gedanken im Stillen einen vierundvierzigjahreweiten Bogen. Die Gegenwart und die Vergangenheit berühren einander und in mir schließt sich ein Kreis. Der Augenblick bewegt mich und für die Dauer eines ausgedehnten Atemzugs ist es einerlei, dass König Fußball trotz all seiner Vorzüge dem Eishockey ganz einfach das Wasser nicht zu reichen vermag.