Ein Leben lang

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Leseprobe

aus: Manfred Kraus, Ein Leben lang, Apfeltrach 2017, Seite 117ff.

Derby

Eine Annäherung an ein Phänomen

Es herrschte Ausnahmezustand. Aneinander gepresst wie die Heringe standen die Menschen. Das Pulverfass Berliner Platz war zum Bersten gefüllt. Trotzdem drängten ganze Scharen immer weiter auf die längst überfüllten Tribünen. Verrückte kletterten halsbrecherisch hinter der Holzverschalung bis unters Hallendach. Den hitzigen Meinungsaustausch zwischen Kaufbeuren und Augsburg ließ sich keiner entgehen. Es brodelte und die Luft brannte. Die Stimmung war aufgeheizt, die Anspannung kolossal. Als aber der Puck auf das Eis fiel, brachen alle Dämme. Eine rotgrünweiße Wand aus dreitausend Schlachtenbummlern peitschte ihre Farben nach vorne, den frankokanadischen Torjäger Bob Lamoureux, den ausgefuchsten Finnen Jouni Samuli, die jungen Himmelsstürmer Holger Meitinger und Ernst Höfner. Fünftausend Kaufbeurer hielten dagegen. Lautstark und leidenschaftlich. Sie standen wie ein Mann hinter ihrer Mannschaft, die sich um den großen alten Georg Scholz scharte und auf den schwedischen Wirbelwind Kaj Nilsson, den pfeilschnellen Außen Gerhard Schuster, den blutjungen Abwehrrecken Dieter Medicus baute.

Die Rivalität zwischen dem ESV Kaufbeuren und dem Augsburger EV ist seit jeher sehr groß. Unermesslich aber war sie, als die beiden alten Kontrahenten noch bei Meisterschaftsspielen aufeinander prallten. Das Derbyfieber erhitzte die Gemüter und es war zwecklos, sich dagegen zu wehren. Schon Tage vor dem Spiel der Spiele zog es herauf. Ein unaufhörliches Kribbeln erfasste die Gedanken und das Gefühl. Es war wie ein Rausch, eine Ekstase, ein Zauber. Auch im Dezember 1975, als der AEV zum Gipfeltreffen der Zweiten Bundesliga wertachaufwärts erschien und der vollgestopfte Berliner Platz achttausend Eishockeyherzen mitriss.

Überall auf der Welt elektrisieren Derbys die Massen. Sie schlagen die Menschen magisch in ihren Bann. Polarisieren. Spalten. Verbinden. Manifestieren die Identifikation mit dem eigenen Verein. Außer Kraft sind die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Jene der Vernunft auch. Man gönnt dem Verstand eine Pause. Für sanfte Gemüter ist da kaum Platz. Es wird mit der großen Kelle angerührt. Schließlich pflegt man Gegensätze. Nicht selten auch Abneigungen. Gegen einen Widersacher, den man am liebsten auf den Mond schießen würde, wäre die Eishockey-welt ohne ihn nicht doch viel zu leer. Bei der Bewertung einer Saison dienen Derbys als Brennglas. Sie sind das Salz in der Suppe. Die Ärmel werden hochgekrempelt und Legenden geboren. Auch Helden. Nicht mehr und nicht weniger als Weltanschauungen stehen auf dem Spiel und nebenbei werden auch pralle Einnahmen in die Vereinskassen gespült. Über allem aber steht der Derbysieg. Er ist Balsam für die Seele und ein Faustpfand für schlechte Zeiten.

Um den Ursprung des Begriffs Derby zu verstehen, müssen wir uns in die Abgeschiedenheit der englischen East Midlands begeben. Ins Provinzstädtchen Ashbourne. Und tief hinein in die Vergangenheit. Ins Mittelalter, um genau zu sein. Das verschlafene Nest in der hügeligen Grafschaft Derby richtet nämlich schon seit Jahrhunderten die Shrovetide Matches aus, bei denen alljährlich am Faschingsdienstag und am Aschermittwoch ausgiebig der Rivalität zwischen der Oberstadt und der Unterstadt gefrönt wird und ganze Menschenscharen voller Inbrunst und zuweilen auch mit rustikalen Mitteln versuchen, den Ball durch das wuselnde Gedränge zum gegnerischen Tor zu befördern. Einstmals bildeten Mühlsteine das Ziel, heute sind es Steinpyramiden, was schon außergewöhnlich genug wäre. Das Beste aber kommt noch, denn die beiden Objekte der Begierde liegen drei Meilen voneinander entfernt. Es mutet seltsam und kurios an, wenn der Ball entlang dem Flüsschen Henmore getragen, getrieben, geschlagen, geworfen und gekämpft wird, beinahe ein bisschen bizarr.

Wie aber sollte es auch anders sein? Schließlich gilt das Shrovetide Match als die Mutter aller Derbys. Auch des vielleicht berühmtesten Derbys der Gegenwart, das als hochemotionales Stadtduell selbst der Strenge puritanischer Derbydefinitionen standhält. The Old Firm in Glasgow. Dort prallen nicht nur der Celtic FC und der Rangers FC aufeinander, sondern auch die Religionen. Die Fetzen fliegen indessen nicht minder, wenn sich Galatasaray und Fenerbahce beim Interkontinentalen Derby über den Bosporus hinweg bekämpfen, wenn sich der bürgerliche FK Austria im Wiener Derby beim Hütteldorfer Arbeiterklub SK Rapid kein Veilchen holen möchte oder wenn Newcastle United und die Black Cats aus Sunderland beim Tyne-Wear Derby im St. James´ Park ihre aus den Tiefen der Jahrhunderte stammenden Freundlichkeiten austauschen.

Die Intensität der Derbygefühle ist aber eben beileibe kein fußballspezifisches Phänomen und der Sprung zum Eishockey somit kein großer. Die Flieger aus Kloten duellieren sich heißblütig mit den Stadtzürchern vom ZSC, die Bianconeri vom mondänen Luganer See mit den Berglern aus den Dörfern Ambri und Piotta, die Kölner Haie mit der innig verabscheuten DEG. Ein illustrer Kreis, in den sich das mitreißende Wertachderby zwischen dem ESVK und dem AEV einstmals nahtlos einfügte.

Wer in Kaufbeuren Derby sagt, der muss aber natürlich auch Füssen sagen, wobei die ausgeprägte Rivalität mit dem ehemaligen deutschen Serienmeister aus dem Königswinkel lange Zeit unter einem ganz eigenen Stern stand. Zu übermächtig war der sechzehnfache Titelträger, zu überlegen, geradezu unantastbar. Nicht nur für den ESVK. Sondern für die ganze Eishockeyrepublik, vor der sich der EVF auftürmte wie die Allgäuer Alpen.

Der EV Füssen, das war der große Bruder, gegen den man nicht ankam und der einen dies auch spüren ließ. Als freilich die Kaufbeurer Nadelstiche trotz der anhaltenden Füssener Glanzzeit immer tiefer wurden, flogen die Fetzen. Das mag an der Nachbarschaft gelegen haben, für besonderen Zündstoff aber sorgten auch die Füssener und Ziegelwieser Wurzeln von mehr als der Hälfte der Kaufbeurer Spieler. Gemunkelt wurde überdies, dass der stetige Aufstieg des Kaufbeurer Eishockeys manch einem Füssener ein Dorn im Auge gewesen sei, weil dieser am Kobelhang zu einem Zuschauerschwund führte, weshalb der Platzhirsch im Allgäuer Derby alles tat, um hohe Gewinnresultate zu erzielen. „Das sind keine Punktspiele mehr zwischen Füssen und Kaufbeuren. Es sind Treffen voller persönlicher Feindseligkeiten. Ich bin mir vorgekommen wie ein Ringrichter“, klagte Schiedsrichter Wilhelm Bawa Egginger aus Garmisch-Partenkirchen nach dem Derby des 14. Januar 1964 und es ist überliefert, dass er seinem Münchner Kollegen Gustav Rohr schon während des laufenden Spiels zugeraunt habe, dass sie die Begegnung abbrächen, wenn gleich auch noch die Messer auf dem Eis gezogen würden. In einem Vermerk auf dem Spielberichtsbogen empfahlen sie der technischen Kommission des Deutschen Eishockeybundes, künftige Partien zwischen dem EV Füssen und dem ESV Kaufbeuren nur noch von ausländischen Schiedsrichtern leiten zu lassen. Die Presse staunte, dass bei den Zusammenstößen an der Bande die Bohlen nicht splitterten, und sie sprach von Händeln unter ehemaligen Schulfreunden, von feindlichen Nachbarn, die das Kriegsbeil ausgegraben hätten, und von Zuschauern, die von der Waldtribüne des Kobelhangs aus mit Stöcken und Schirmen auf die Köpfe der sich ineinander verknäulenden Spieler einhieben.

Mitte der Sechziger, als sie der legendäre Xaver Unsinn zu einer deutschen Spitzenmann-schaft formte und Talente wie Alfred Lutzenberger, Manfred Hubner und Walter Köberle aus dem Boden schossen, standen die Rotgelben erstmals auf Augenhöhe mit ihrem südlichen Nachbarn. Hatte sich bis dahin zumeist nur die Frage nach der Höhe des Füssener Sieges gestellt, boten die Kaufbeurer dem Meisterschaftsabonnenten nunmehr auf hohem Niveau Paroli. Im Winter 1965/66 trotzte der Vorrundenzweite von der Wertach dem hochfavorisierten EVF am Kobelhang ein begeisterndes 5:5 und damit eines von nur zwei Unentschieden ab und in der kurzen Meisterrunde stellte er dem großen Rivalen sogar ein Bein. Das bemerkenswerte Kaufbeurer 4:2 kostete den erfolgsverwöhnten Füssenern um Leonhard Waitl, Rudolf Thanner und Siegfried Schubert sensationell den Titel und es hievte den EC Bad Tölz auf den Thron.

Die Wachablösung erfolgte jedoch erst eingangs der goldenen Achtziger. Sie kam einer Götterdämmerung gleich, denn der Kaufbeurer Jugendstil sprengte die Ketten einer festgezurrten Hackordnung und er stellte die überkommene Allgäuer Eishockeywelt gleichsam auf den Kopf. Strahlend ging…

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