Allein, die Zeiten sind andere

Samstagvormittag. Noch steht die Sonne schräg über der Mindel, aber sie strahlt von einem wolkenlosen Blauhimmel. Es riecht nach taufrischem Gras, nach Erde und Frühling. Und wenn man aufmerksam horcht, dann hört man sie auch, die Stollenschuhe an den Kinderfüßen, wie sie aus der Enge der stickigen Umkleidekabine über farbenvergessene Kellerfliesen den Gang hervorkommen, die Betonstiegen hochsteigen und entlang der Bänke, die seit einer halben Ewigkeit die Außenlinie auf ihrem Weg von Eckfahne zu Eckfahne begleiten, zum Kleinfeld laufen. Acht sind die Buben. Sie tragen weiße Fußballtrikots, blaue Hosen, blaue Stutzen und ein Lachen im Gesicht. Vorfreude steht darin zu lesen und ein bisschen Nervosität auch. Schließlich bleibt nur noch eine halbe Stunde bis zum Anpfiff, der den Ball freigibt für die Leidenschaft, die Freude am Spiel, die Faszination Fußball.

Wenn ich genau hinhorche, dann vermag ich sie tatsächlich zu vernehmen, die Stollen auf dem Stein, und wenn ich meine Augen aufmache, dann sehe ich ihn auch, den Aprilhimmel mit seinem durchscheinenden Blau, seinem glasigen Licht und seiner lauen Luft, in der uns die Zuversicht des Frühlings tief durchschnaufen lässt.

Etwas aber stimmt nicht mit diesem Samstagvormittag im April anno zwanzig, an dem die Herzblutfußballer der Dirlewanger F1 ihre Gäste aus Schöneberg zum fairen Wettstreit um das runde Leder empfangen sollten. Etwas stimmt ganz und gar nicht. Die Sonne scheint zwar vom blauen Himmel und ich weile auch auf dem Sportplatz am Römerweg, doch bin ich allein, ganz allein. Verlassen ragt die Winzigkeit der ebenerdigen Holztribüne in den Himmel, während aus dem Rund ihrer gestrichenen Metallstützen Rost tritt und ihre aus der Zeit gefallenen Sitzbänke Erinnerungen wachrufen.

Nichts rührt sich. Es herrscht Ruhe. Beinahe Stille. Selbst auf dem Hauptplatz ist der für gewöhnlich sauber gepflegte Fußballrasen nicht gemäht. Kräftige Stengel recken ihr Löwenzahngelb aus dem schuhhohen Gras, das Kreideweiß der Außenlinie hat sich aus dem Staub gemacht, die verwaisten Tore wissen nichts mit sich anzufangen, das Sportheim dämmert gottverlassen vor sich hin, zwischen den aufragenden Bäumen fließt die Mindel gen Norden, kein Ball rollt. In Dirlewang nicht und auch sonst auf keinem der Fußballplätze des Landes, auf die die Coronaviruspandemie eine stumme Decke des Schweigens ausgebreitet hat.

Der kindlichen Leidenschaft für den Fußball wird die grassierende Seuche nichts anhaben können. Er wird kommen, der Tag, an dem sie wieder mit leuchtenden Augen ihre weißen Leibchen und blauen Hosen anziehen werden, um mit einem Schuss Nervosität und noch mehr Vorfreude zum Aufwärmen zu gehen und zu tun, was ihnen am Herzen liegt. Im Ohr das Singen der Vögel, in der Nase den Geruch von Gras, Erde und Frühling, vor Augen das Spiel. Allein, die Zeiten sind andere und der Moment des Stillstands gebiert Wehmut auf einem Sportplatz, der ein Sehnsuchtsort der Fußballseele ist. Hier ist der Fußball daheim, hier schlägt sein Herz, hier hat er seine Wurzeln. Nicht in den hochglanzpolierten Arenen.

Sehnsucht kommt auf. Nach dem Stollengeräusch auf abgenutzten Fliesen, nach der Enge spärlicher Umkleidekabinen, deren abgegriffenen Wände Geschichten erzählen könnten, nach der vorbehaltlosen Spielfreude der Buben. Unter einem ruhenden Ball hatte ich mir immer etwas ganz anderes vorgestellt.