Groundhopping in Umbrien

Perugia. Stadtteil Pian di Massiano. Es dunkelt. Auf den Straßen dichter Verkehr. Wir kämpfen uns durch. Finden einen Parkplatz in der Viale Pietro Conti. An einem Sonntag spät im August. Vor Augen das kleine Abenteuer Serie B. Zweithöchste italienische Profiliga. AC Perugia Calcio gegen AC Chievo Verona.

Überall Trauben von Menschen. Stimmengewirr. Wir brauchen noch Karten. An den vorsintflutlichen Kassenhäuschen aber herrscht Gedränge. Das kann dauern angesichts der paar offenen Fensterchen. Nichts geht voran. Trotz der Geschäftigkeit hinter Gitterstäben. Schließlich stehen wir doch vor der Luke. Ausweiskontrolle. Auf jedes Billett muss der Name des Besuchers gedruckt werden. Die Jahrzehnte aber haben die Schreibmaschinenbuchstaben auf meinem uralten grauen Führerscheinlappen verschluckt. Kaum etwas lesbar. Zumal im fahlen Lichtschein. „Pazienza“, ruft die Eintrittskartenverkäuferin streng in das Murren der sich hinter uns aufstauenden Menschenschlange. Sie mahnt Geduld an, während wir uns mit Händen und Füßen verständigen. Schließlich reicht sie mir mein Dokument zurück in die Dunkelheit. Zögert. Überlegt. Holt sich Rat bei ihrem Nebenmann. Kurzes Murmeln. Zuckende Schultern. Ein Nicken. Offenbar glaubt man an die Redlichkeit der beiden Exoten. Sie schaut uns lange an. Drückt ein Auge zu. I due tedesci, die vielleicht einzigen Ausländer im Stadion, bekommen ihre biglietti d´ ingresso. Freundlich grinsend lässt man mich meinen Namen und mein Geburtsdatum auf einen eilends aus einem Block gerissenen Zettel schreiben. Und die Angaben meines achtjährigen Sohnes Benedikt gleich dazu. Für einmal muss das auch so gehen. Wir haben die Karten. Rennen zum Einlass, wo sich die Menschentrauben längst aufgelöst haben. Werden durchgewunken. Die umbrische Nacht glüht.

Perugias Fußballstadion trägt den Namen des anno siebenundsiebzig während eines Ligaspiels gegen Juventus zusammengebrochenen und noch auf dem Rasen verstorbenen Publikumslieblings Renato Curi. Man sucht in ihm vergebens nach einer Anzeigetafel. Die ergraute Arena besitzt an drei Seiten kein Dach und sie stützt ihr ganzes Gewicht auf eine offene, für jedermann sichtbare Stahlkonstruktion, die seit fünfundvierzig Jahren tut, was getan werden muss. Sie trägt und sie hält. Nachdem der gesamte Bau seinerzeit binnen drei Monaten hochgezogen worden war. Nüchtern und schnörkellos. Ein einziger Bierausschank versorgt unsere Stadionhälfte. Ansonsten nichts. Kein Verkaufsstand. Kein Laden. Oder doch. Fußball. Von allen Ablenkungen befreiter Fußball. Ohne Tand.

Noch aber hören wir bloß die Kulisse. Treppen über Treppen führen ins Stadioninnere. Steile. Flache. Viele. Ein Carabiniere bemerkt unsere fragenden Blicke. Er nimmt uns bei der Hand und geleitet uns durch den Metalldschungel zum Aufgang der Tribuna Est C. Mit einem freundlichen Augenzwinkern und guten Wünschen schickt er uns hinauf. Gegentribüne. Reihe 11. Platz 188 und 190. Chievo ist schon früh in Führung gegangen.

Verschollene Bilder erwachen. In der Luft hängt etwas Erdiges. Etwas Echtes. Etwas Unaufgeblasenes. Das Eigentliche. Leidenschaft statt Luxus. Gefühl statt Geschäft. Calcio statt Komfort und Kommerz. Und wir mitten drin in den süditalienischen Gefühlswallungen. Umgeben von Tifosi. Jungen und alten. Großen und kleinen. Leichten und schweren. Aber alle: weißrot. Sie hoffen, sie bangen, sie schreien, sie schweigen, sie zucken zusammen, leiden, springen auf, jubeln. Biancorossi mit Leib und Seele.

Wir stoßen uns an. Nicken einander zu. Spüren uns. Spüren den Calcio. Seine Leidenschaft. Seine Emotion. Und immer wieder starren wir gemeinsam hinüber zur berühmten Tortribüne. Die heißblütige Curva Nord brennt. Ihre lautstarken Gesänge fliegen hinaus in die sternenklare Nacht. Da können zwei Dutzend fliegende Esel im beinahe verwaisten Gästeblock wenig ausrichten. Erst recht, als Pietro Iemmello mit einem Elfmeterdoppelpack den Sieg des Grifo über den Serie-A-Absteiger aus Venetien herausschießt und ein ganzes Stadion aufspringen lässt. Die Hütte bebt und wir wissen, ohne es auszusprechen – es muss her, das Trikot mit der Neun. In dreimal XS. Zum Glück öffnet nach Spielschluss der winzige Fanshop im berührenden Vereinsmuseum noch einmal. Macht sechzig Mäuse. Gut angelegtes Geld. Benedikt strahlt über beide Ohren. Auch noch, als wir weit nach Mitternacht wieder in San Venanzo eintreffen.

Am Monte Peglia steigt drei Tage später die Partie des ortsansässigen Fußballvereins ASD gegen Romeo Menti. Coppa Italia Promozione Umbria. Zwölf Tifosi drücken den Gästen die Daumen, deren siebzig San Venanzo Calcio, das den Aphorismus des Baltasar Gracián über die alles in ihren Farben malende Leidenschaft um die Worte „la nostra è biancazzurra“ ergänzt hat. Das malerische Stadio Comunale Aldo Pambianco liegt abgeschieden im Steineichenwald. Nahe der sich schier endlos gen Orvieto windenden Bergstraße. Es geht hoch her in der vor zehn Jahren eingeweihten Sportstätte und bald nach der Pause überrascht Andrea Nuccioni die Gastgeber mit einem Fernschuss. Gianluca de Dominicis aber gleicht schon vier Minuten später mit einem abgefälschten Freistoß wieder aus. Die Tribüne springt auf. Klatscht. Gestikuliert. Ruft freudig Vornamen zum Rasen hinab. Schließlich trennt man sich schiedlich-friedlich. Auf dem Platz und auf der Tribüne. Der heiße Kampf endet pari. Die einzige Fahne wird eingerollt. Sie ist weißblau. Selbstverständlich ist sie weißblau. Ultras 1968 steht auf ihr.

Sie haben den Calcio im Blut, die Tifosi. Auch auf dem Land. Zufrieden holpern sie auf dem staubigen Kiesweg nach Hause. Unter ihnen ein begeisterter Herzblutfußballer aus dem Allgäu und sein eishockeyverrückter Vater. Wir schauen einander an. Lächeln. Auf die weichen Linien der sanften umbrischen Hügellandschaft sinkt die Dämmerung herab. Ganz leise. Beinahe still.

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Groundhopping im grünen Herzen Italiens

Sonntag, 25. August 2019, 21 Uhr, Serie B
AC Perugia Calcio gegen AC Chievo Verona 2:1 (1:1)
Tore: 0:1 Riccardo Meggiorini (3.), 1:1 Pietro Iemmello (45./Elfmeter), 2:1 Pietro Iemmello (69./Elfmeter)
Perugia, Stadio Renato Curi, 7840 Zuschauer

Mittwoch, 28. August 2019, 17.30 Uhr, Coppa Italia Promozione Umbria
ASD San Venanzo gegen GSD Romeo Menti 1:1 (0:0)
Tore: 0:1 Andrea Nuccioni (52.), 1:1 Gianluca de Dominicis (56.)
San Venanzo, Stadio Comunale Aldo Pambianco, 84 Zuschauer