Im grünen Herzen Italiens

Septembermorgenfrische. Auf den mittelalterlichen Mauern des Bergnests Rotecastello hängt hauchdünn die Andeutung eines Nebelschleiers, in der erdigen Luft eine Stimmung besinnlicher Versunkenheit. Geisterhaft hallt der langgezogene Ruf des Waldkauzes. Die Dämmerung stemmt sich nach Kräften gegen den grauenden Morgen. Das Land am Monte Peglia schläft noch. Es herrscht Stille. Von den Hunden der in den umliegenden Hügeln ruhenden Gehöfte gebrochen und gleichsam vertieft. Ihr Gebell ist der Klang des umbrischen Morgens.

Das tiberdurchflossene Umbrien gehört zu den beschaulichsten Regionen Italiens. In der malerischen Weltabgeschiedenheit des Hügellandes von Monte Peglia und Selva di Meana aber verdichtet sich dieser vereinnahmende Eindruck zum Wesenhaften. Weich sind die Linien, fließend die Formen, im Einklang die Farben. Eine ölbaumumspielte Lichtlandschaft, in der aufragende Zypressenreihen, schattenspendende Eichenwälder und weit aufgespannte Pinienschirme ebenso starke Akzente setzen wie das wogende Gold des sich die Hänge hochziehenden Getreides und das leuchtende Blütengelb der ausgedehnten Sonnenblumenfelder. Der nimmermüde Wechsel von Bergen und Tälern verleiht dem grünen italienischen Herzland indessen ein gerüttelt Maß an Tiefgang und poetischer Ernsthaftigkeit. Umbrien wirkt knorriger als die angrenzende Toskana, ungezähmter und herber, als legte das Licht einen Hauch von Patina auf seine romantische Nachdenklichkeit.

Man ahnt, dass im Herbst mit dem Aufkeimen dicker Nebelschwaden auch ein Anflug von Melancholie in der vom Apennin umarmten Abgeschiedenheit Einzug halten wird, und es nimmt nicht wunder, dass die Spiritualität dereinst die umbrische Unberührtheit zu ihrer Heimat erkor. Nicht nur der Heilige Benedikt von Nursia, der Heilige Jakob von Todi, die Heilige Klara und der Heilige Franziskus von Assisi fanden in der Kontemplation der seelenhaften Zurückgezogenheit Gott und offenbar auch sich selbst. Etwas Bedeutsames geht von Umbrien aus, etwas Geheimnisvolles, gar Mystisches.

Schweigend setze ich mich auf eine aus groben Natursteinen aufgeschichtete Trockenmauer. Sie terrassiert das abfallende Gelände, gebietet dem stetigen Bodenabtrag Einhalt und gewährt allerlei Getier Unterschlupf. Mir aber schenkt sie sinnende Ruhe, während der Morgen tief Atem holt. Er streckt seine müden Glieder, blinzelt ins erwachende Licht, das den gegenüberliegenden Hügelrücken von hinterhalb hell anstrahlt und das den Kamm bekrönende Gehöft mit seiner langgezogenen Zypressenallee in einen Scherenschnitt verwandelt. Schließlich schlägt er seine Augen ganz auf, färbt wie von Geisterhand den Himmel blutrot, komponiert einen Trommelwirbel glühender Farben, schnauft noch einmal durch – als plötzlich die umbrische Sonne gleich einem Feuerball in den jungen Tag springt. Die Gedanken stehen still. Der Hahnenschrei aber zerschneidet das klagende Blöken der weidenden Schafe und in das über den Talboden herüberfliegende Kläffen der Hunde mischt sich das laute Rufen kräftiger Männerstimmen. Gemeinsam ziehen Mensch und Tier in die Eichenwälder. Der Trüffel auf der Spur. Ein zaghafter Lufthauch wiegt die feingliedrigen Zweige der Ölbäume, die Dämmerung gibt zögernd kleinbei. Schließlich verstummen die Stimmen. Mit ihnen das Bellen der Hunde, deren feine Nasen die begehrten schwarzen Knollen aufspüren.

Am Vorabend haben auch wir sie genossen. Drunten im trutzigen Rotecastello, wo man in der gemütlichen Locanda del Borgo hervorragend mit dem Schlauchpilz, der der umbrischen Küche ihre unverwechselbare Note verleiht, umzugehen weiß. Die handgeschriebene Speisekarte offerierte Wildschwein an Trüffelsoße nebst Strangozzi, den landestypischen umbrischen Bandnudeln, die traditionell ohne Eier auskommen und ihren Teig allein dem Mehl, dem Salz und dem Wasser verdanken. Dazu die fruchtige Frische eines strohgelben Orvieto Classico. Wir waren die einzigen Gäste. Umsorgt von einer vornehmen Zurückhaltung, aufgenommen, aufgehoben. Den atemberaubenden Ausblick auf die unberührte Bilderbuchlandschaft gab es wie selbstverständlich obendrein.

Die Trüffeln kommen frisch auf den Tisch. Sie gehören zu den heimischen Wäldern wie die Bäume, mit denen sie zusammenleben, unter der Erde nur ausfindig zu machen von der feinen Spürnase des Hundes, der seinem Herrchen dort draußen indessen nicht nur bei der mühsamen Suche nach der verborgenen Delikatesse zur Seite steht. Vielmehr hilft er ihm auch bei einem ungleich heikleren Geschäft – der Wildschweinjagd, bei der Mensch und Hund jedoch längst nicht mehr allein sind, rückt den Schwarzkitteln doch zunehmend auch der Wolf auf den Pelz. Er hat sich auf den Höhen spürbar vermehrt und schleicht zu Hunderten durch Umbrien.

Das Binsengeflecht meines Holzstuhles knarrzt, als ich aufstehe, um im Baum hinter dem Haus rotviolette Feigentropfen zu pflücken. Dann mache ich mich auf meinen Morgenweg hinauf nach San Venanzo. Ein Schwalbenschwarm flötet sein anmutiges Lied in das aufkeimende Zikadengezirp, die steigende Sonne schöpft Wärme, die im Gegenlicht blassen Farben holen sich ihre Kraft zurück.

Die Bar Corretto hält dickkrustiges, ungesalzenes Weißbrot und Hörnchen für unser Frühstück bereit. Zudem verwöhnt mich die freundliche Barista mit dem Vorzug, sich ihr Amüsement über mein Bruchstückitalienisch nicht anmerken zu lassen. Vielmehr stellt sie bereits eine Untertasse samt Löffelchen auf den Tresen, wenn ich die Bar betrete. Und spätestens wenn aus der umgehend nachgereichten Winzigkeit einer dickwandigen Tazzina verlockend der betörende Duft des frischen Espressos steigt, stülpt der Augenblick über die äußerliche Nüchternheit der Kaffeebar die Magie des schlichten Genusses. Hatte sie bei meinem ersten Besuch noch gezweifelt, ob ich mit meiner Bestellung „un caffè per favore“ auch tatsächlich einen Espresso im Sinn hätte, reicht mir die vielbeschäftigte junge Frau hinter der Theke selbigen längst als Selbstverständlichkeit. Ohne dass es dafür noch eines Wortes bedürfte. Ohne Umschweife. Ohne Zucker. Schließlich verinnerlicht eine aufmerksame Barista die Vorlieben des Gastes im Handumdrehen.

Wie die Einheimischen nehme ich meinen Caffè im Stehen zu mir. Gleichsam im Vorübergehen. Ein kleines Ritual. Ein stilles Vergnügen. Im Grunde gar eine Unabdingbarkeit. Gleichsam ein Muss, wenn man auch nur in die Nähe einer Kaffeebar gelangt, kann man sich doch blind darauf verlassen, dass ein dort zubereiteter Espresso getrost mit einer Wohltat für den Gaumen und das Gemüt gleichgesetzt werden kann.

Die Bar stellt auf dem Stiefel eine Institution dar, eine Instanz. In der Stadt und auf dem Land auch. Überall eben. Ein Ort zum Durchschnaufen, ein Ort der kurzen Besinnung, ein Ort für ein Schwätzchen, ein Gespräch. Oder, gerade auch das ist die Bar, vielleicht sogar zuvörderst, ein Ort für einen schnellen Kaffeegenuss. Ein Stück Lebensgefühl halt und ein Stück Heimat dazu. Nicht wegzudenken aus Italien. Weit mehr als eine Gewohnheit. Auch mehr als eine Notwendigkeit. Ein Ankerplatz für die Seele. Zumal am frühen Morgen.

„Siehst du droben auf dem Hügel unsere Olivenbäume?“, fragt mich Pietro, der längst auf den Beinen ist, als ich aus San Venanzo zurückkehre. Er möchte uns Tomaten, Gurken und Basilikum aus dem Gemüsegärtchen vor die Tür legen. Mitsamt einem Glas Feigenmarmelade, einem Kännchen Olivenöl und einem zurückhaltenden Lächeln drückt er mir das Früchtekörbchen in die Hand, um sogleich mit seinem ausgestreckten Arm über die lichtgelben Stoppeln des abgeernteten Kornfeldes hinauf zur nahen Kuppe zu deuten, wo sich ein silbergraugrün flimmerndes Band vor dem azurblauen Himmel abzeichnet. „Oliven brauchen Luft und Licht. Deswegen dürfen die Bäume nicht eng gepflanzt werden, wie es jedoch leider immer öfter geschieht, weil auch nach Umbrien moderne Maschinen für eine industrielle Olivenproduktion geholt werden. Bei uns ist das noch anders. Die Baumreihen stehen weit auseinander und das wird auch so bleiben.“

Pietro ist ein ebenso naturverbundener wie kunstsinniger Mensch. Er restauriert auf seinem abgeschiedenen Landgut alte Möbel und er liebt die Musik. Hinter seiner dunklen Hornbrille blitzen sanfte, aber wache Augen und wenn man mit ihm spricht, gewahrt schon der erste Blick, dass die Gelassenheit die Schwester der Leidenschaft ist. Sein feiner Geist, seine Belesenheit, seine vornehme Zurückhaltung, seine unaufdringliche Offenheit lassen auf eine sorgsam gehütete Weltläufigkeit schließen – obwohl oder gerade weil er sich entschlossen hat, sein Leben in der Zurückgezogenheit seines Anwesens am Monte Peglia zu verbringen. Das Schicksal hat ein gutes Händchen bewiesen, als es ihn mit Cristina zusammenführte. Auch wenn beider Haar unübersehbar den Grauton des gesetzten Alters angenommen hat, strahlen sie Tatkraft, Harmonie und Übereinstimmung aus.

Zwölf große Schritte, um genau zu sein, misst der Abstand zwischen den Reihen ihrer Olivenbäume und von Stamm zu Stamm sind es noch einmal deren neun. Eine Großzügigkeit, die mir schon bei meinen Spaziergängen aufgefallen ist und nicht nur den gehobenen Ansprüchen eines biologischen Landbaus gerecht wird, sondern auch ihr Scherflein dazu beiträgt, dass das umbrische Olivenöl als das beste Italiens wahrgenommen wird. Damit aber nicht genug. Pietro möchte noch weitergehen. Weiter zurück in die Vergangenheit, um sich mit der Weisheit der Altvorderen auf den Weg in die Zukunft zu machen, fasst er doch ins Auge, zwischen die luftigen Ölbaumreihen nach alter Väter Sitte Weinstöcke zu pflanzen. „Bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts war das gang und gäbe“, nimmt er mich mit in die Landwirtschaftsgeschichte Umbriens, „auch für Cristinas Großvater, der neben Oliven und Wein Getreide und Tabak anbaute, aber auch Kühe, Schweine und Hühner hielt. Der Olivenbaum und der Weinstock ergänzen sich ausgezeichnet. Beide zeigen kein Interesse an feuchten Böden. Außerdem kümmern sich die Olivenbäume als Tutoren ganz hervorragend um das Wachstum der Weinreben. Und lange Wege erspart ihr Zusammensein bei der Arbeit auch noch. Wir werden das mit dem Wein und den Oliven machen, auch wenn wir hier nicht die Lagen haben wie auf der Hochebene von Montefalco, wo der kräftige Rotwein Sagrantino gedeiht“, möchten Cristina und Pietro auf den Spuren der Tradition den Weg der Mäßigung beschreiten.

Umbrien gilt als das grüne Herz Italiens. Il cuore verde d´ Italia. Im frühen September aber färbt sich das Bauernland zunehmend ackerschollenbraun. Wenn das ausladende Tabakblättergrün üppig wogt, die reifen Kastanien dunkelrotbraun glühen und die ölschweren Sonnenblumenköpfe kerngrau nicken, pflügen die Bauern ihre riesigen Weizenfeldhänge im sich stetig verändernden Licht. Ameisengleich. Den ganzen Tag und die halbe Nacht hindurch. Hügelauf, hügelab. Ihr Fleiß prägt das Antlitz eines gesegneten Stückchens Erde, dessen pittoreske Mittelalterstädte Geschichte ein- und italienische Lebensart ausatmen. Perlen der Baukunst. Horte der Kunstschätze. Aber natürlich, authentisch, vereinnahmend, ehrlich und echt. Kann es eine höhere Wertschätzung geben als Kinder, die ihre Eltern ersuchen, den Spaziergang durch eine Altstadt auszudehnen, um noch länger in deren Gassen verweilen zu dürfen? Das luftige Todi, das etruskische Orvieto, das weinumrankte Montefalco, das langobardische Spoleto, sogar die Hauptstadt Perugia – kühn nisten sie auf Bergkuppen, eisern krallen sie sich an Abhänge, ungekünstelt leben sie ihren Alltag abseits der Besucherströme. Darin übertroffen nur noch von den zu Stein gewordenen Dorfminiaturen, die auf ihren weltabgewandten Adlernesthöhen ein Stück aus der Zeit fallen.

Die Sonne ist gen Westen gewandert, der späte Nachmittag wirft lange Schatten. Zypressenschatten. Pinienschatten. Steineichenschatten. Ölbaumschatten. Die Farben verändern sich, werden satter, eindringlicher, tiefer. Grüner das Laubgrün. Gelber das Stoppelfeldgelb. Brauner das Ackerschollenbraun. Blauer das Azurhimmelblau. Die Harmonie dieser Farbentheaterbühne vor Augen, lasse ich mich am Abhang auf einem großen Stein nieder. Unter dem Silbergraugrün eines Ölbaumes spüre ich das Land und das Licht. Es malt unablässig neue Eindrücke von einer Landschaft, die die Seele berührt. Ruhig weiden meine Augen auf ihr, meine Sinne stillen ihren Durst an ihrer Magie. Der umbrische Nachmittag gleicht dem Schattenwurf eines anderen Lebens.

Aus dem offenen Küchenfenster blubbert der in die Jahre gekommene Espressokocher in das immerwährende Zikadengeschrill, als sich Pietro zu mir setzt. Er erzählt von der Ernte im ausgehenden November. Sie ist mit einem Haufen Arbeit verbunden. Mühsam wird Olive um Olive gepflückt. Mit der Hand und mit der Hilfe von Nachbarn und Freunden. Es würde nicht gehen ohne sie. Pietro aber klagt nicht über die Anstrengung. Die Arbeit gehört zu ihm, sie gehört zum Leben. Und ist sie getan, dann kommt, was kommen muss. „Die Erntetage sind lang und beschwerlich, sie gewähren uns aber auch die Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen. Und wenn das Tagwerk vollbracht ist, dann sitzen wir zusammen, um gemeinsam zu essen und trinken“, betont die Gelassenheit eines Mannes, der dem Leben respektvoll begegnet. Er gibt, was er zu geben vermag, er nimmt, was ihm gebührt.

Mit einem Mal tut sich etwas am azurblauen Himmel. In Windeseile keimen Wolkentürme auf, als wüchse Blumenkohl am Firmament, und während Pietro von der Ölmühle im benachbarten Collelungo und vom ausgelassenen Fest zum Abschluss der Ernte spricht, braut sich unversehens dunkles Gewitterbrodeln zusammen. Über San Venanzo zucken schon Blitze, grollend rollt der Donner. Ein Geschenk ist das. Für das Land und die Menschen, habe ich doch noch Cristinas sorgenvolle Worte im Ohr. Wegen der Trockenheit und dem Wachstum der Oliven, deren Größe noch zu wünschen übriglasse in diesem Jahr. Nun aber bahnt sich Abhilfe den Weg. Von oben. Wie könnte es auch anders sein in diesem Land? Das Wolkengebräu verspricht mehr als bloß einen Tropfen auf den heißen Stein.

„Pietro, ihr lebt in einem kleinen Paradies“, sage ich. Er nickt. Gemeinsam schauen wir hinüber zum winzigen Bergdörfchen Rotecastello, dessen erdfarbene Steinmauern im umbrischen Grün nisten. Sacht wird die bevorstehende Septembernacht wieder den Anflug eines Nebelschleiers auf seine Dächer breiten. Hauchdünn. Kaum vernehmbar. Und still.

Pietro lächelt. Dann sagt er: „Schön, dass ihr dieses Gefühl mit uns teilt.“